Ländliche Genossenschaften

Wir unterscheiden in der Regel zwischen „städtischen“ Genossenschaftsbanken, konzipiert für die Bedürfnisse von Handel, Gewerbe und Handwerk (Schulze-Delitzsch) und „ländlichen“ Genossenschaftsbanken, die auf das Konzept von Raiffeisen zurückgehen.

Vor allem Wilhelm Haas, der beide Systeme kombinierte, gelang es später, über seinen Dachverband (Reichsverband der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften e.V. ) viele ländliche Genossenschaften zu organisieren.

Die „Mitgliedsgenossenschaften standen zum Teil auf der Grenze zwischen den Typen Raiffeisenscher und Schulzescher Prägung, waren zum Teil sogar vollständig nach den Grundsätzen von Schulze-Delitzsch aufgebaut“.

(zitiert nach Schlütz: Ländlicher Kredit, S. 165)

Hass‘ Verband war Anfang des 20. Jahrhunderts der größte Dachverband deutscher Genossenschaften. Dem Raiffeisen-Verband gehörten 1909 etwas über 4.900 Genossenschaften (vor allem Kreditgenossenschaften) an, dem Haas-Verband über 12.500 Genossenschaften und dem Allgemeinen Verband (Schulze-Delitzsch) etwas über 1.400 Volksbanken.

Im Stammbaum der Volksbank GHB gehörten alle Vorgängerinstitute (Hagen, Kloster Oesede, Bissendorf und auch später Oldendorf) dem Verband hannoverscher landwirtschaftlicher Genossenschaften e.V. an, der Mitglied in Haas‘ Reichsverband war.

Das ist insofern nicht ganz unwichtig, als dass die Verbände Musterstatuten für die Genossenschaften herausgaben, mit deren Hilfe wir – vor allem auch dann, wenn uns die Originalakten der Genossenschaften fehlen – einiges über die Entwicklung der Genossenschaftsbanken lernen können:

  • Welche Regeln gab es für die Vergabe von Krediten?
  • Wie haben Vorstand und Aufsichtsrat miteinander gearbeitet?
  • In welchem Verhältnis stand der Rendant (heute würden wir Geschäftsführer sagen) zum Vorstand?

Auch können wir über diese Musterstatuten in Erfahrung bringen, welche Rechte und Pflichten die Mitglieder hatten oder auch, wie die Vorgaben für Generalversammlungen waren. Zugleich ‚verrät‘ uns die Verbandszugehörigkeit etwas darüber, in welchem ‚Geiste‘ die Genossenschaften geprüft wurden (Revision) oder ob sie ohne weiteres ihr Geschäftsgebiet ausdehnen ‚durften‘. Anders als etwa die ‚klassischen‘ Raiffeisen-Genossenschaften war das Wechselgeschäft bei Genossenschaften, die auf den Musterstatuten der Regionalverbände der Haas-Organisation basierten, nichts ungewöhnliches. In der Sache ging es immer darum, die Genossenschaften an dem Bedarf der Mitglieder auszurichten – je nachdem was in einer Region aufgrund der Agrar- / Wirtschaftsstruktur benötigt wurde.

Arbeiten zur Bodenverbesserung am Hof Hüggelmeyer in Ohrbeck, um 1912 (im dunklen Mantel links Julius Hüggelmeyer, Initiator der Spar- und Darlehnskasse in Hagen)          (Quelle: Festschrift 100 Jahre VB GMHütte-Hagen, S. 23)

Reichsverband der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften e.V.

Haas schloss auch Molkereigenossenschaften, Bezugs- und Absatzgenossenschaften, Elektrizitätsgenossenschaften usw. mit in seine Organisation ein. Dies war der Unterschied zum Raiffeisen-Verband in Neuwied. Zudem organisierte der Raiffeisen-Verband seine Kreditgenossenschaften zentral aus Neuwied, während der Reichsverband für dezentral organisiert war, und somit regionale Spezifikationen berücksichtigten konnte. Zeitweise waren 28 regionale Genossenschaftsverbänden für ländliche Genossenschaften dem Reichsverband angeschlossen, die sich später, ab den 1920er Jahren, zu immer größeren Einheiten zusammenschlossen. Um 1905 wurde der Raiffeisen-Verband erstmals mit dem Haas-Verband zusammengeschlossen.1 Die Verbindung ging dann aber noch einmal auseinander und erst mit einer generellen Rationalisierungswelle in den 1920er Jahren wurde aus den beiden der „Reichsverband der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften – Raiffeisen – e.V.“, der 1934 in den Reichsnährstand eingegliedert wurde.

Zu den Aufgaben des Dachverbandes – der 1883 als Vereinigung der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften e.V. gegründet wurde und ab 1903 als Reichsverband der deutschen  landwirtschaftlichen Genossenschaften e.V. firmierte – gehörte u.a.: „(1) „Förderung und Ausbreitung des landwirtschaftlichen Genossenschaftswesens; (2) die Wahrung und Vertretung gemeinsamer Angelegenheiten, namentlich in Gesetzgebung und Verwaltung; (3) die Ausbildung und Verfestigung und Vervollkommnung der genossenschaftlichen Verfassung und Einrichtung in allen ihren Zweigen; (4) die Beratung und Förderung der dazugehörigen Verbände und Genossenschaften in allen genossenschaftlichen, rechtlichen und wirtschaftlichen Fragen; (5) die Veranstaltung und Bearbeitung der genossenschaftlichen Geschäftsstatistik.“ (zitiert nach Schlütz: Ländlicher Kredit, S. 165)

Verband hannoverscher landwirtschaftlicher Genossenschaften e.V.

Auch der Verband hannoverscher landwirtschaftlicher Genossenschaften e.V. profitierte als Verbandsmitglied von den Tätigkeiten des Reichsverbandes. Mit dem Beitritt zum Reichsverband hatte der Hannoversche Verband dem ‚Darmstädter Programm‘ zu folgen. Auch hatte der Dachverband Regeln für die Gründung von Kreditgenossenschaften, für die Geschäftspolitik sowie konkrete Anweisungen für die Führung der Geschäfte formuliert. Daran hatten sich dann auch die Genossenschaften zu orientieren – Abweichungen waren jedoch erlaubt, wenn es den Menschen vor Ort half.2

Für alle Genossenschaften galt:

  • Darlehnsgeschäft mit Nichtmitgliedern war unbedingt auszuschließen – das stand schon so im Genossenschaftsgesetz (übrigens bis zur Novelle des GenG 1973).
  • Vermögen sollte aufgebaut werden, zur Absicherung der Mitglieder, und um einen wesentlichen Teil des Betriebskapitals aus eigenen Mitteln stemmen zu können. Hierzu sollten vor allem der  Geschäftsanteil und die Pflichteinzahlung angemessen bemessen werden.
  • Die genossenschaftlichen Prinzipien der Selbstverwaltung und Selbstverantwortung sollten immer gewahrt bleiben.3

Für Kreditgenossenschaften wurden zudem Grundsätze zum Geschäftsbezirk, zur Haftpflicht, Regeln für die Arbeit von Vorstand und Aufsichtsrat, zur Zusammenarbeit mit der Zentralbank, zu Zinsen usw. formuliert. Immer vor dem Hintergrund den Verantwortlichen vor Ort die ehrenamtliche Arbeit zu erleichtern und die Spar- und Darlehnskassen für einen nachhaltigen Aufbau und für Wachstum hin zu einer „Dorfbank“ zu stärken.4

Dorfbank – Raiffeisenbank Bissendorf in den 1960er Jahren (Quelle: 100 Jahre Raiffeisenbank Bissendorf, Festschrift, 1999, S. 35)

Wichtige Schritte im Aufbau der Hannoveraner Organisation (1889 bis 1914)5

5. Sept. 1889: Gründungsversammlung – Gründung als „Revisionsverband der landwirtschaftlichen Genossenschaften in der Provinz Hannover und dem Hamburger Gebiet“, Verbandsdirektor: Theodor Roßmann aus Hannover.

22. Jan. 1890: Gründung der Landesgenossenschaftskasse eGmbH in Hannover.

27. März 1890: Verleihung des Rechtes zur Bestellung von Revisoren (Revisionsrecht).

21. April 1891: 2. ordentlicher Verbandstag in Hannover und Änderung des Verbandsnamens in „Verband hannoverscher landwirtschaftlicher Genossenschaften“, neuer Direktor: Peter Johannßen aus Hannover, Vortrag von August Fricke über „Die Sicherstellung des Kredits bei Spar- und Darlehnskassen“.

22. Dez. 1893: Gründung der Hauptgenossenschaft eGmbH in Hannover.

7. Mai 1894: 5. ordentlicher Verbandstag in Hannover und Satzungsänderung für die Ausweitung des Verbandsbezirkes auf Braunschweig, Lippe-Detmold, Schaumburg-Lippe, Waldeck und den Kreis Rinteln.

31. Juli 1895: Wichtige Wegmarke: Gründung der Preußischen Zentralgenossenschaftskasse in Berlin (Wurzel der heutigen DZ BANK) – Verbandsdirektor Ökonomierat Johannßen wurde in den Ausschuss der Preußenkasse berufen.

Mai 1898: Wichtige Satzungsänderungen, u.a. Wahl von Vertretern der Bezirke.

Jan. 1901: Errichtung eines Rechnungsrevisionsbüros.

März 1901:  Änderung der Jahresbeiträge / Aufstellung für Beitragsklassen für die einzelnen Genossenschaftstypen.

Ab 1902: Buchführungskurse in den Bezirken.

1906: Beschluss, nicht nur eingetragene Genossenschaften, sondern auch landwirtschaftliche Vereinigungen mit ähnlicher Rechtsform und Gesellschaften mit beschränkter Haftpflicht und Aktiengesellschaften aufzunehmen.

1907: „Organische Angliederung des Verbandes an die Landwirtschaftskammer der Provinz Hannover“.

1913: Gründung der Zentralgenossenschaft für Viehverwertung eGmbH in Hannover.

1914: 1.465 Mitglieder (darunter 517 Kreditgenossenschaften, 305 Molkereigenossenschaften, 215 Bezugsgenossenschaften).

 

1. Schlütz, Frauke: Ländlicher Kredit. Kreditgenossenschaften in der Rheinprovinz (1889-1914) (Schriftenreihe des Instituts für bankhistorische Forschung 25), Stuttgart 2013, S. 164-168, 177-180.

2. Ebd., S. 165-168.

3. Ebd., S. 165f.

4. Ebd., S. 166.

5. Festschrift zur Feier des 25jährigen Bestehens des Verbandes hannoverscher landwirtschaftlicher Genossenschaften e.V. zu Hannover, 1889-1914, S. 13-23.