Transformationsprozess: Vom Agrarstatt zum Industriestaat

Die ersten Genossenschaften entstanden im 19. Jahrhundert als Instrument zur Stabilisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, die sich in einem enormen Umbruch befanden. Die ersten Volksbanken wurden in den 1850er Jahren als Finanzintermediäre für Handwerk und Gewerbetreibende gegründet, die u. a. in Folge der Auflösung der Zünfte mit einer damals als Kapitalnot empfundenen Herausforderung zu kämpfen hatte: Es gab niemanden, der ihnen zu reellen, verbindlichen Zinsen für einige Wochen Geld lieh, um etwa Material für die Herstellung eines Schrankes oder dergleichen zu besorgen. Die Beschaffung von Betriebsmitteln war vielerorts ein schwerwiegendes Problem.

Die Volksbanken hatten ihren Sitz zumeist in größeren Orten, weil vor allem hier Handwerker, Gewerbetreibende und Handelstreibende ansässig waren. Nicht selten wurden die Gründungen vom Innungsausschuss oder der Handwerkskammer angestoßen. Anders als die ländlichen Kreditgenossenschaften vergaben die Volksbanken zumeist kurzfristige Kredite (in der Regel bis zu drei Monate) und beteiligten sich am Wechselgeschäft. Auch ihr Geschäftsbezirk war meist größer als das der ländlichen Spar- und Darlehnskassen(vereine). Das Konzept der Volksbanken geht auf Hermann Schulze-Delitzsch zurück, einen Jurist aus Delitzsch (Sachsen).

 

Ländliche Genossenschaften

Die Geschichte der ländlichen Kreditgenossenschaften wird heute vor allem mit dem Namen Friedrich Wilhelm Raiffeisen verknüpft, der im vergangenen Jahr seinen 200. Geburtstag feierte. In der ehemaligen Provinz Hannover, aber auch in anderen Landesteilen, wie im Rheinland und in Westfalen, war die Etablierung des Genossenschaftswesens eng mit der Entwicklung der Landwirtschaft verbunden: Mit der Bauernbefreiung wurde der vormals grundherrschaftlich gebundene Bauer zum Vollbürger und zum Unternehmer, der nun seinen landwirtschaftlichen Betrieb mehr und mehr markt- und gewinnorientiert führen musste.

Für das Verstehen der Geschichte der ländlichen Kreditgenossenschaften ist es hilfreich, die Strukturen und Ziele der landwirtschaftlichen Interessenvertretungen zu kennen. Einen Untergang der Landwirtschaft – sowohl im gesellschaftlichen als auch im wirtschaftlichen Sinne – wollte man in diesem großen Transformationsprozess hin zur Industriegesellschaft verhindern.

In der preußischen Provinz Hannover waren es ebenfalls die Königliche Landwirtschaftsgesellschaft und die landwirtschaftlichen Vereine, die sich mit dem Thema Genossenschaften – nicht nur für Finanzdienstleistungen vor allem auch im Molkereibereich – intensiver beschäftigten und seit den 1880er Jahren die Gründung von Genossenschaften vorantrieben. Vor allem der Landesökonomierat Johannssen aus Hannover war ein engagierter Förderer und seit 1891 auch Direktor des 1889 gegründeten Genossenschaftsverbandes Verband der hannoverschen landwirtschaftlichen Genossenschaften e.V. in Hannover, dem übrigens alle im Stammbaum der Volksbank GHB aufgeführten Vorgängerinstitute angehörten. Vor allem das Regionalprinzip führte zum Anschluss an den 1883 gegründeten Reichsverband der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften. Dieser Dachverband (dem übrigens über die regionalen Verbände weit mehr Genossenschaften angehörten als dem Neuwieder Anwaltschaftsverband, den Raiffeisen gegründet hatte) ging auf die Initiative des Darmstädter Juristen Wilhelm Haas zurück – dem Organisator des ländlichen Genossenschaftswesens, der heute im Schatten der beiden Gründerväter Raiffeisens und Schulze-Delitzschs steht.

Jahr Anzahl der Genossenschaften
1895 433
1905 951
1915 1.606
1925 2.592

Tabelle: Genossenschaften in der Provinz Hannover
(Quelle: Taschenbuch des Reichsverbandes der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften, S. 303)

Viele der Gründungen im Bezirk Osnabrück fanden in den 1890er Jahren statt. Einige schauen wir uns in unseren nächsten Beiträgen etwas ausführlicher an…

 

Quellen / Literatur zu diesem Beitrag:

  • Frauke Schlütz: Kreditgenossenschaften in Westfalen im 19. Jahrhundert. In: Wixforth, Harald (Hg.): Das Finanz- und Bankwesen in Westfalen vom 18. bis 20. Jahrhundert (Westfälische Forschungen 67), Münster 2017, S. 143-162
  • Dies.: Wilhelm Haas. In: Sozialreformer, Modernisierer und Bankmanager. Biographische Skizzen aus der Geschichte des Kreditgenossenschaftswesens. Hg. v. Institut für Bankhistorische Forschung e.V. im Auftrag der DZ BANK AG, München 2016, S. 191-212.
  • Dies.: Ländlicher Kredit. Kreditgenossenschaften in der Rheinprovinz (1889-1914) (Schriftenreihe des Instituts für bankhistorische Forschung 25), Stuttgart 2013.
  • Taschenbuch für landwirtschaftliche Genossenschaften, hg. v. Reichsverband der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften e.V., Berlin 1926.