Das deutsche Genossenschaftswesen wurzelt in den Ideen Schulze-Delitzschs und Friedrich Wilhelm Raiffeisens.

Während Raiffeisen ein Konzept für Darlehnskassen-Vereine in ländlichen Regionen entwickelte hatte (noch heute gilt er als „Vater des ländlichen Genossenschaftswesens“), hatte Schulze-Delitzsch bereits in den 1850er Jahren Musterstatuten für Kreditvereine entworfen, die auf die Vergabe kurzfristiger Kredite für Handwerker und Gewerbetreibende ausgerichtet waren.

 

Hermann Schulze-Delitzsch

Hermann Schulze wurde am 29. August 1808 in Delitzsch geboren. Den Beinamen Delitzsch (nach seinem Wohnort) erhielt Schulze nach seiner Wahl in die Preußische Nationalversammlung 1848.

Schulze studierte ab 1827 in Leipzig und Halle Rechtswissenschaften. 1938 erfolgte die Ernennung zum Oberlandesgerichtsassessor. Nach weiteren Anstellungen wurde er 1841 Patrimonialrichter in Delitzsch. Schulze war hier gut integriert, engagierte sich in verschiedenen Vereinen, etwa im Turn- und im Gesangsverein. Im ‘Hungerwinter’ initiierte er ein Hilfskomitee zur Unterstützung der hungernden Bevölkerung.

In Delitzsch machte er seine Beobachtungen: Die Probleme der Handwerker und Gewerbetreibenden bei der Beschaffung von Betriebsmitteln und der fehlende Zugang zu Finanzdienstleistern.

In der Preußischen Nationalversammlung nutzte er sein Mandat, um die wirtschaftliche Lage von Handwerkern und Gewerbetreibenden zu verbessern und seine Ideen genossenschaftlicher Zusammenschlüsse weiter zu entwickeln. Ab 1859 gehörte er dem Preußischen Abgeordnetenhaus an, ab 1867 dem Reichstag. Hier gestaltete er das Genossenschaftsgesetz für Preußen (1867) und den Nordeutschen Bund (1868).

Schulze-Delitzsch starb am 29. April 1883 in Potsdam.

 

Hermann Schulze-Delitzsch (1808-1883)

 

Konzept der Schulze-Delitzschen „Volksbanken“

1850: Erste Abhandlung in den „Mitteilungen über Gewerbliche und Arbeiterassoziationen“

1853: Veröffentlichung des „Assoziationsbuch für Deutsche Handwerker und Arbeiter“. Darin auch Statuten, Formulare und Anweisungen zur Buchführung.

Ab 1854: Beilage über Genossenschaftsthemen in der Gewerbezeitung „Innung der Zukunft“ (später Zeitschrift „Blätter für das Genossenschaftswesen“).

1855: Veröffentlichung des Buches „Vorschuss- und Kreditvereine als Volksbanken“.

1859: Erster Vereinstag  deutscher Vorschuss- und Kreditvereine, welche auf der Selbsthilfe der Kreditbedürftigen aus dem kleinen und mittleren Gewerbebestand beruhen. In Weimar erfolgte die  Gründung eines Zentral-Korrespondenzbureau der deutschen Vorschuss- und Kreditvereine (Leitung: Schulze-Delitzsch). 1861 entstand hieraus die „Anwaltschaft der deutschen Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften“.

 

Friedrich Wilhelm Raiffeisen – das ländliche Genossenschaftswesen…

Friedrich Wilhelm Raiffeisen wurde am 30. März 1818 in Hamm im Westerwald geboren. Sein Vater war Bürgermeister, hatte eine landwirtschaftliche und eine kaufmännische Ausbildung beim Fürsten Hohenlohe-Waldenburg absolviert. Sein Großvater war Pfarrer in Mittelfischbach, seine Mutter die Tochter eines Schultheißen (Ratsherren).

Mit 17 trat Raiffeisen als Freiwilliger ins Militär ein, vermutlich um über diesen Weg auch ohne Abitur die höhere Verwaltungslaufbahn einschlagen zu können. Nach der Artillerie-Ausbildung besuchte er die Inspektionsschule in Koblenz (ab 1838, Ausbildung zum Oberfeuerwerker, Prüfung 1840). Mit Anfang 20 war er Leiter der Materialprüfung in der staatlichen Eisengießerei in Sayn und damit für die Qualitätssicherung von Munition verantwortlich. In Koblenz gehörte er einem Freundeskreis aus Abiturienten und Studierenden an („Euterpia“ in Anlehnung an die Muse Euterpe). Bis an sein Lebensende fühlte sich Raiffeisen – nicht zuletzt durch die Begegnungen in seinem Freundeskreis in jungen Jahren – dem praktischen Christentum verbunden, ein wichtiger Einfluss auf Raiffeisens Haltung und Denkwelt.

Nach seiner Entlassung aus dem Militär wurde er kommissarischer Kreissekretär des Kreises Mayen. Ab 1845 war Raiffeisen Bürgermeister der Samtgemeinde Weyerbusch (Westerwald).

 

Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818-1888)

Die erste Amtszeit war – wie in der Ortschaft Delitzsch – von einer enormen Hungersnot gekennzeichnet. Mit pragmatischem Einsatz und der Hilfe finanziell besser gestellter Bürger konnte er die Not der Bevölkerung eindämmen (Brotverein). Dieser Winter war zugleich der Beginn seiner Arbeit am Konzept der ländlichen Darlehnskassenvereine:

1848: Übernahme des Bürgermeisteramtes von Flammersfeld.

1849: Gründung des Flammersfelder Hilfsvereins zur Unterstützung unbemittelter Landwirte.

1852: Übernahme des Bürgermeisteramtes in Heddesdorf.

1854: Gründung des Heddesdorfer Wohltätigkeits-Vereins.

1862: Gründung des Darlehnskassen-Vereins für das Kirchspiel Anhausen.

1864: Gründung des Heddesdorfer Darlehnskassen-Vereins.

1865: Eintritt in den Ruhestand.

1866: Veröffentlichung seines Buches „Die Darlehnskassen-Vereine als Mittel zur Abhilfe der Noth der ländlichen Bevölkerung, sowie auch der städtischen Handwerker und Arbeiter“.

1872: Gründung einer Geldausgleichsstelle (Rheinische landwirtschaftliche Genossenschaftsbank), 1874 Umwandlung in die Deutsche landwirtschaftliche Zentralbank.

1877: Gründung des Anwaltschaftsverbandes in Neuwied.

1881: Gründung der Raiffeisen-Druckerei in Neuwied.

 

Quellen zum Text:

– zu Schulze-Delitzsch

  • Albrecht, Gerhard: Schulze-Delitzschs Leben und Werk, in: Deutscher Genossenschaftsverband Schulze-Delitzsch e.V. (Hg.): Schulze-Delitzsch 1808-1958. Festschrift zur 150. Wiederkehr seines Geburtstages, Wiesbaden 1958.
  • Aldenhoff, Rita: Schulze-Delitzsch. Ein Beitrag zur Geschichte des Liberalismus zwischen Revolution und Reichsgründung, Baden-Baden 1984.
  • Aldenhoff-Hübinger, Rita: Schulze-Delitzsch, Hermann, in: Neue Deutsche Biographie 23 (2007), S. 731-732, online: https://www.deutsche-biographie.de/gnd118762575.html#ndbcontent.
  • Dies.: Hermann Schulze-Delitzsch (1808-1883). In: Institut für bankhistorische Forschung e. V. (Hg.), Sozialreformer, Modernisierer, Bankmanager. Biografische Skizzen aus der Geschichte der Genossenschaftsbewegung, München 2016, S. 37-58.
  • Koch, Walter: Und sie konnten nicht zueinander kommen. Das Verhältnis zwischen Hermann Schulze-Delitzsch und Friedrich Wilhelm Raiffeisen (Schriftenreihe Förderverein Hermann Schulze-Delitzsch und Gedenkstätte des deutschen Genossenschaftswesens e.V. 3), Nossen 2000.
  • Thorwart, Friedrich: Hermann Schulze-Delitzsch. Leben und Wirken, Berlin 1913.

– zu Raiffeisen

  • Bauert-Keetmann, Ingrid: Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Ein Leben für die Zukunft, Hannover (1988).
  • Klein, Michael: Leben, Werk und Nachwirkung des Genossenschaftsgründers Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818-1888). Dargestellt im Zusammenhang mit dem deutschen sozialen Protestantismus (Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte 122), Köln 1997.
  • Koch, Walter: Der Genossenschaftsgedanke F. W. Raiffeisens als Kooperationsmodell in der modernen Industriegesellschaft, Paderborn/Würzburg 1991.
  • Seelmann-Eggebert, Erich Lothar: Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Sein Lebensgang und sein genossenschaftliches Werk, Stuttgart 1928.
  • Michael Kopsidis: Friedrich Wilhelm Raiffeisen. In: Sozialreformer, Modernisierer und Bankmanager. Biographische Skizzen aus der Geschichte des Kreditgenossenschaftswesens. Hg. v. Institut für Bankhistorische Forschung e.V. im Auftrag der DZ BANK AG, München 2016, 59-77.
  • Soénius, Ulrich S.: Raiffeisen, Friedrich Wilhelm. In: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), S. 115-116, Online-Version: https://www.deutsche-biographie.de/gnd118597884.html#ndbcontent.